Demos halten unsere Demokratie am Leben!!

Vorgestern gingen in Berlin tausende Menschen mit und ohne Behinderung vor dem Kanzleramt auf die Straße. Sie demonstrierten gegen den Entwurf des Bundesteilhabegesetzes (ich kündigte an). Wenige Tage zuvor machte sich nach der Vorstellung des Referentenentwufs zum Bundesteilhabegesetz bei den Behindertenverbänden und vielen Betroffenen große Ernüchterung breit. Gemeinsamer Tenor war, dass die Bundesregierung dem angekündigten Systemwechsel – weg vom „Fürsorgesystem“ hin zu moderner Teilhabe – in keinster Weise entsprochen habe. Einer der Hauptkritikpunkte: Lebensnotwendige persönliche Assistenz für körperlich eingeschränkte Menschen etwa macht der Staat weiter von der finanziellen Leistungskraft des Betroffenen abhängig. Die erhoffte vollständige Abschaffung der Anrechnung von Gehalt und Vermögen bleibt aus. Für die Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), Dr. Sigrid Arnade steht der Entwurf im Gegensatz zu den Festlegungen in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und zu den Empfehlungen nach der Staatenprüfung Deutschlands vor einem Jahr.

$_35Ein denkbar schlechtes Zeugnis, aber schauen wir uns die Details des Entwurfs mal etwas genauer und vor allem objektiv an: Ein Fortschritt ist zwar die deutliche Erhöhung der Vermögensgrenze auf 52.000 €, soviel wie das Durchschnitts-Vermögen in Deutschland. Andererseits muss weiterhin auch der Ehepartner mit seinem Vermögen geradestehen. Betroffene und Behindertenverbände fragen sich zurecht, wieso es für größere notwendige Anschaffungen wie ein behindertengerechtes Auto keine Ausnahmen gibt? Außerdem ist die Regelung ziemlich ungerecht: Menschen, die zusätzlich zur Eingliederungshilfe auch Hilfe zur Pflege brauchen, dürfen nur 25.000 € sparen. Da kommt man sich als Mensch, der pflegebedürftig ist, wie der reinste Kostenfaktor vor. Und Überraschung, Überraschung, es gibt bedeutend mehr Menschen, die sowohl Eingliederungshilfe als auch Hilfe zur Pflege bekommen. Hinzu kommt, dass Menschen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, weiterhin nur den derzeitig geltenden Betrag von 2600 € sparen dürfen.
Allerdings finde ich es völlig legitim, wenn wir Betroffenen zu unseren Assistenzleistungen je nach Höhe des Einkommens einen kleinen finanziellen Beitrag leisten. Immerhin verringert sich die Einkommens-Anrechnung für die „Geringverdiener“ etwas. Und eine Summe von ca. 300 € im Jahr sollte trotz weiterer Abzüge, die alle Bürger haben, eigentlich drin sein. Inkonsequent ist wiederum, dass der Ehepartner zwar nichts mehr von seinem Einkommen abgeben muss, dafür aber nach wie vor sein Vermögen herangezogen wird.

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Fazit: Der Politik fehlt mal wieder der Weitblick und die Systematik. Es wird gekleckert und nicht geklotzt. Jetzt wäre die große Chance, die unsägliche Verknüpfung von Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung von der Sozialhilfe zu lösen. Bloß weil ich eine körperliche Einschränkung habe, möchte ich doch finanziell nicht zwangsweise auf Sozialhilfe-Niveau gedrückt werden. Einen Beitrag leisten, kein Problem. Aber nicht sparen zu dürfen wie jeder andere auch ist nicht nur ungerecht, sondern einfach unnötig. Dann soll der Gesetzgeber wenigstens eine klare Linie fahren und für alle Menschen mit Behinderung, die Unterstützung brauchen, die gleiche Vermögensgrenze ansetzen. Aber Einfachheit war scheinbar noch nie die Sprache unserer Politiker. Mich nervt es besonders, wenn Regelungen absichtlich kompliziert gehalten werden, dass der Bürger ja nicht mehr durchblickt. So ging es zumindest mir, als ich den Entwurf zum Teilhabegesetz gelesen habe. Und ob nun kompliziert oder nicht, es bleibt das ungute Gefühl, als werde der arbeitswillige Mensch mit Behinderung, der motiviert ist, im Arbeitsleben voranzukommen, weiterhin ausgebremst. Lieber Steine in den Weg legen, als fördern, das ist die Devise. Deshalb begrüße ich die Demo von vorgestern außerordentlich und ich glaube sehr wohl, dass sie einen Nutzen hatte.

E-Erkenntnis des Tages: Emotionale Themen sollte man immer auch auf einer sachlichen Ebene betrachten.

E-Gebrauchsregel des Tages: Warum transparent und fair, wenn es auch kompliziert und kleinkariert geht?