Ein Weihnachtskonzert mit nachhaltiger Wirkung

Wie zu jedem Weihnachtsfest fahre ich auch dieses Jahr wieder zu meiner Familie in die schwäbische Heimat. Es hat schon Tradition, dass ich in dieser Zeit mit meinem Vater mindestens ein Konzert besuche. Einen Tag vor Heiligabend sehe ich im Internet die Ankündigung für das Weihnachtsoratorium in einer Kirche der Stuttgarter Einkaufsmeile. Wir sind uns bewusst, dass es mitten im Zentrum Stuttgarts mit einem Parkplatz schwierig werden wird. Diese Befürchtung bewahrheitet sich, da einer der wenigen Behindertenparkplätze ziemlich blöd zugeparkt ist. Da wir wie immer spät dran sind, bleibt uns nur der Weg in die Tiefgarage. Sieht leider ziemlich voll aus, aber plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein riesengroßer Behindertenparkplatz vor uns auf. Das ist unserer! Wir fahren mit dem Aufzug hoch, überqueren die Straße und ab geht’s zum Eingang der Kirche.

Vor dieser herrscht Aufregung und die Kartenverkäuferin erklärt, dass es keinen Platz mehr in der Kirche gibt. Mein Vater sagt der Frau nur, dass wir ja unseren Sitzplatz dabei haben 😉 Die Frau denkt keine zwei Sekunden nach und sagt: „Das machen wir jetzt einfach!“ Ohne einen Cent zu bezahlen und noch dazu mit einem Programmheft fahre ich mit meinem Vater in die Kirche. Sofort kommt einer der Sänger auf uns zu gestürmt und verspricht uns, dass er auf der Stelle einen Stuhl für uns organisiert. Das wäre nicht einmal nötig, denn in zwei Bankreihen rutschen schon die Konzertgäste zusammen, damit noch ein Platz frei wird. So muss es sein kurz vor Weihnachten: Praktizierte Nächstenliebe! Bevor wir reagieren können, gibt uns der Sänger von eben die Auskunft, dass er im Moment leider keinen Stuhl findet. Leicht verzweifelt merkt er an: „Tut mir echt Leid, aber ich muss jetzt nach vorne zum Singen.“ Aber es gibt ja noch die Kassiererin, die nun einfach ganz selbstlos ihren Stuhl neben eine Kirchenbank stellt. Echt der Wahnsinn, ich wusste gar nicht, dass wir Schwaben so unkompliziert und hilfsbereit sind!!!

Nach einem qualitativ hochwertigen und sehr schönen Konzert ist unser Glück quasi perfekt, Weihnachten kann kommen! Natürlich machen wir dem Sänger von vorhin ein riesen Kompliment und bedanken uns für seine Hilfsbereitschaft. Draußen geht die Serie der Begegnungen mit wahnsinnig hilfsbereiten Menschen weiter. Wir suchen den Zugang zum Aufzug für die Tiefgarage, merken aber bald, dass dieser inzwischen verschlossen ist. Ein schwäbisch-türkischer Passant bekommt das mit und kann es nicht fassen: „Das gibt’s nicht, es muss irgendwo einen rollstuhlgerechten Zugang geben! Ich suche jetzt für sie.“ Mit einem Affenzahn rennt er den großen Gebäudekomplex entlang und verschwindet für kurze Zeit. Mit enttäuschter Miene kommt er nach fünf Minuten wieder zurück. Er hat leider keine positiven Neuigkeiten, aber das macht uns jetzt überhaupt nichts mehr aus. Wir bedanken uns herzlich und freuen uns einfach wahnsinnig über die vielen netten Menschen, die es anscheinend doch noch gibt ? Wir fahren jetzt einfach die Autoeinfahrt der Tiefgarage hinunter, ganz schön lang und nicht gerade ein gutes Zeugnis für eine Landeshauptstadt. Die 8 € Parkgebühr verschmerzen wir allerdings mit links.

Meine persönliche E-rkenntnis des Tages: Im Rollstuhl zu sitzen kann ein Privileg sein.

Die E-Gebrauchsregel des Tages: Spontanes und umkompliziertes Handeln ist ein Patentrezept.