Der gute alte Rechtsstaat – und seine Auslegung

Es ist wirklich ein starkes Stück, wie die Regierung beim Teilhabegesetz Menschen mit Behinderung und ihre Verbände hinhält. Es zeigt sich mal wieder: ohne eine wirksame Lobby ist es in Deutschland sehr, sehr schwer geworden. Natürlich ist es nicht nachzuvollziehen, wenn Menschen mit Behinderung, die Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe beziehen, nichts ansparen dürfen. Arbeitende Menschen mit Behinderung bezahlen Steuern wie jeder andere und haben genauso wie jeder andere auch ein Recht darauf, dass sich ihre Arbeit lohnt! Aber stellen wir diese emotionalen Empfindungen einmal kurz beiseite und schauen uns zwei interessante Aspekte genauer an, die zu einer Erklärung des Schlamassels beitragen:

UNDa wäre zum einen Artikel 4 der Behindertenrechtskonvention, welcher die Umsetzung der Konvention – anders als bei den bürgerlichen und politischen Rechten – an die Bedingung der Finanzierbarkeit bindet. In Absatz zwei heißt es, dass sich „die Vertragsstaaten unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel verpflichten, mit entsprechenden Maßnahmen progressiv die volle Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte zu erreichen“. Davon unberührt bleiben natürlich die Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention, die sofort anwendbar sind. D.h. also im Klartext: Auch wenn die Ausschöpfung der verfügbaren Mittel gewollt ist, bietet sich den Regierungen immer noch genügend Gestaltungsspielraum. Leider sind Menschen mit Behinderung so dem Gutdünken oder böse gesagt auch der Willkür des Staates ausgeliefert

clause-640-300x211Roland Rosenow, Sozialrechtler in Freiburg, macht noch auf eine weitere Problematik aufmerksam. Aus seiner Sicht hat die deutsche Rechtsprechung Grundrechten aus völkerrechtlichen Verträgen die Anerkennung als Recht lange Zeit weitgehend verweigert. Sie hat völkerrechtlich zugesprochene Rechte als Programmsätze deklariert und sie so der Verantwortung der Politik überlassen. Mit anderen Worten: Die Gerichte haben sich für nicht zuständig erklärt und die Tatsache ausgenutzt, dass völkerrechtliche Übereinkommen keine Gesetzgebung im uns geläufigen Sinne darstellen, sondern in den meisten Fällen Vertragsrecht zwischen zwei Staaten beinhalten. Völkerrechtliche Verträge hatten zudem viel zu lange kaum Auswirkungen auf das Rechtsbewusstsein unserer Gesellschaft. Allerdings verändern sich soziale und kulturelle Realitäten der Gesellschaft und somit auch Rechte. Laut Rosenow müssen dafür nicht unbedingt die zugrunde liegenden Gesetzestexte verändert, sondern gegebenenfalls angepasst werden. Hoffen wir mal, dass sich Rechtsbewusstsein und Rechteauslegung in eine positive Richtung entwickeln.

E-Erkenntnis des Tages: Es lohnt sich, die Behindertenrechtskonvention einmal genauer zu lesen.

E-Gebrauchsregel des Tages: Die Rechtsprechung sollte sich gegenüber der Politik im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzen.

Auf nach Berlin am 4. Mai!!!

Am 5. Mai jährt sich der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zum 20. Mal, an dem Behindertenverbände und – organisationen ihre Interessen artikulieren und die Politik an ihre Versprechen erinnern. Das diesjährige Motto lautet: „Deutschlands Zukunft Inklusiv Gestalten – Kein Kompromiss bei der Teilhabe“. Zum 1. Januar 2017 soll das neue Bundesteilhabegesetz in Kraft treten. Ein Gesetz mit besonders viel Sprengstoff: Schon eine gefühlte Ewigkeit wird der Referentenentwurf hinausgezögert, das Gesetzgebungsverfahren verschleppt. Die Regierungskoalition möchte mit dem Gesetz eigentlich die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung neu ordnen und im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention modernisieren. Die meisten Menschen mit Behinderung fühlen sich inzwischen mal wieder verraten und verkauft, was in diesem Artikel – falls ihr etwas tiefer in die Thematik einsteigen wollt – gut zum Ausdruck kommt: http://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/33543. Menschen, die wie ich aufgrund ihrer Behinderung eine dauerhafte Assistenz brauchen und berufstätig sind, haben folgendes Problem: Sollten sie mehr verdienen als ein Sozialhilfeempfänger bekommt, müssen sie bis zu 40% des Einkommens abgeben. Sollten sie trotzdem noch Geld sparen können, ist dies nicht gestattet, mehr als 2.600 € dürfen sie nicht ansparen. Hintergrund des Problems ist, dass Assistenz-Leistungen der Sozialhilfe zugeordnet sind.

Am 4.Mai geht der Protesttag übrigens in Berlin über die Bühne und der Verbund behinderter ArbeitgeberInnen (VbA) hat eine coole Aktion gestartet, auf die ich unbedingt hinweisen möchte! Rollstuhlfahrer können in München, Mainz und Köln zusteigen oder an den Raststätten entlang der Autobahnroute. Unkosten entstehen fast keine und die Unterbringung in Berlin ist sehr, sehr günstig. Zugegebenermaßen ist mir die Sache etwas zu stressig, an einem Tag hin und am anderen schon wieder zurück. Obwohl es die Sache wirklich wert wäre. Ich denke aber, dass ich als mittlerweile etablierter Blogger von zu Hause aus effektiver unterstützen kann.

12885721_1157458540940728_3087654579800446539_oIn den vergangenen Monaten wurde viel, eigentlich viel zu viel besprochen, Verbände wurden zusammen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Arbeitskreise eingebunden, mit Betroffenen wurden Aktionspläne entwickelt. Einige Studien zu den Lebensumständen von Menschen mit Behinderung wurden gemacht. Leider ist die Umsetzung bislang äußerst mangelhaft, obwohl die Behindertenrechtskonvention bereits seit 2009 geltendes deutsches Recht ist. Das einfachste Argumente für die „Nicht-Umsetzung“ verschiedener Aspekte ist immer, dass es zu viel Geld kosten würde! Viele stellen sich schon lange die berechtigte Frage, ob sich Menschenrechte der Diktatur des Geldes beugen müssen. Artikel 3 des Grundgesetzes verkommt so zur Farce: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Und das in Zeiten, in denen die Schere zwischen Arm und Reich inzwischen so weit auseinander geht, dass es kaum mehr zu vermitteln ist. Es ist mehr als unverschämt, wenn sich einige unserer Mitbürger, die wirklich genug Geld haben, erdreisten, Briefkasten-Firmen in Panama zu gründen. Da kann ich die Wut und den Frust vieler Mitmenschen mit Behinderung sehr gut verstehen!

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Aus Ministeriumskreisen war unlängst in Persona der parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller zu hören, dass man zwar aus der „Soziallogik“ herauswolle, aber die vollständige Anrechnungsfreiheit von Gehalt und Vermögen im neuen Gesetz nicht möglich wäre. Man schiebt es auf das Finanzministerium, dem eine schwarze 0 wichtiger ist als die Wahrung von Menschenrechten. Natürlich ist es schwer, nichtbehinderten Bürgern zu erklären, dass Menschen mit Behinderung Kosten verursachen. Aber hier fehlt es eindeutig an Aufklärung! Menschen mit Behinderung sind für viele andere Menschen wie etwa Ergo-und Physiotherapeuten, persönliche Assistenten sowie Hilfsmittelhersteller Existenzgrundlage. Die Volkswirtschaft wächst dadurch. Die Kosten des Verwaltungsaktes zur Ermittlung des Betrages, den Assistenznehmer an den Staat entrichten müssen, übersteigen übrigens die Einnahmen. Vielleicht sollte unsere Regierung mal nach Schweden schauen: Dort erfolgt die Hilfe für Menschen mit Behinderungen einkommens- und vermögensunabhängig. Also, geht doch!

E-Erkenntnis des Tages: Aufgeben is nicht – Fahrt alle mit, auf nach Berlin!!

E-Gebrauchsregel des Tages: Der Blick hinter die Regierungs-Kulissen ist sehr wichtig, sowohl für Menschen mit, als auch ohne Behinderung – auch wenn er oft weh tut!